Dienstag, 27. März 2012

Meint Inklusion mehr als Integration?


In der Übersetzung der UN-BRK (2006) lässt sich der Begriff Inklusion nicht finden, während im wissenschaftlichen Diskurs noch keine Einigkeit über die Abgrenzung von Integration und Inklusion herrscht (Stein 2010; Wocken 2011). So werden Integration und Inklusion im laienhaften Zusammenhang oft als synonym verwendet. Nach D’Alessio et al. (2010) meint Inklusion aber deutlich mehr als Integration, wie in folgender Tabelle veranschaulicht wird. 

Tabelle Drei pädagogische Konzepte zur Erziehung, Bildung und Unterricht nach D'Alessio, Donelly & Watkins 2010, übersetzt von EnnPie
Aspekte
Segregation
Integration
Inklusion
Fokus
Individuelle Defizite in segregativen Settings
Bereitstellung von zusätzlicher Unterstützung zur individuellen Förderung
Transformation der Strukturen (systematische Veränderung in der Pädagogik, Bewertung und im Curriculum)
Theoretisches Modell
Medizinisch, klinisch
Endogene Entitäten als Störungsursachen
Medizinisch, psychologisch und sozial
Menschenrechte. Alle Schüler haben das Recht wohnortnah beschult und nicht kategorisiert oder stigmatisiert zu werden 
Interventionen
Förderung und Unterstützung werden in segregativen Settings von Spezialisten zur Verfügung gestellt
Ausgleich des individuellen Nachteils in integrativen Settings (Rehabilitation oder ökonomische Unterstützung)
Lehr- und Lernreform mit der Organisation von Regelsettings, die allen Schülern gerecht werden
Benachteiligung wird betrachtet als..
Individuelles Defizit, personengebunden
Interaktionen zwischen der Umwelt und dem Individuum
Eine Form von Exklusion und Diskriminierung, abhängig davon wie die Gesellschaft/Schule strukturiert ist
Entscheidungsprozesse
Professionelle entscheiden hauptsächlich
Professionelle entscheiden mit Eltern zusammen
Benachteiligte/ Behinderte haben das Entscheidungsrecht

An diesem Vergleich lässt sich ablesen, dass Inklusion eine Art Weiterentwicklung und Optimierung von Integration darstellen soll. Im inklusiven System soll jedes Kind, mit jedem pädagogischen Bedürfnis, teilhaben können und als Segment der heterogenen Gruppe anerkannt werden. Zur Lerngruppe gehören dann im Optimalfall „schwerstbehinderte“ wie auch „hochbegabte“, die als Teil der Vielfalt ihren Anteil zum gelingenden Unterricht beitragen. Gemäß UNESCO wird Inklusion definiert als „an ongoing process aimed at offering quality education for all while respecting diversity and the different needs and abilities, characteristics and learning expectations of the students and communities, eliminating all forms of discrimination“ (2008: 3).

Der Versuch einer Begriffsklärung


Die Begriffe Exklusion, Segregation, Integration und Inklusion beschreiben die konzeptionelle Entwicklung des Bildungssystems in Deutschland. Diese ist allerdings nicht chronologisch zu sehen, da „ältere“ Formen, wie die der Exklusion, auch heute noch im Bildungssystem zu finden sind.
Nachfolgend werden mögliche, idealtypische Definitionen der Begrifflichkeiten skizziert und in der Abbildung veranschaulicht.

Exklusion (lateinisch „exclusio“ für ‚Ausschluss‘): Schüler werden den Ansprüchen der Regelschulen nicht gerecht, ob aus sozialer oder kognitiver Hinsicht, und verlassen deshalb die jeweilige Schule und das System der Schule generell. In Brandenburg werden „schwierige“ Schüler in Einzelfällen von Förderschulen in Heime überwiesen, die „Beschulung“ anbieten, die aber rechtlich nicht relevant ist und nicht beurkundet wird. Bei einem längeren Aufenthalt, oft bis zur Volljährigkeit, kehren die Kinder nicht in das Regelschulsystem oder an ihre Förderschule zurück und erlangen keinen Abschluss. In der Konsequenz wird diesen Schülern die Möglichkeit, wie auch das Recht, an Bildung teilzunehmen verwehrt (Sander 2004).
Segregation (lateinisch „segregatio" für ‚Absonderung‘, ‚Trennung‘): Schüler mit Sonderpädagogischem Förderbedarf werden mit Hilfe bestimmter Feststellungsverfahren an Förderschulen überwiesen. Diese Förderschulen stellen ein eigenes System dar und grenzen sich dadurch deutlich von der Regelschule ab. An welche Förderschule die Kinder überwiesen werden, hängt davon ab, nach welchen Kriterien ein Förderbedarf diagnostiziert wird. Grund dafür ist die Vermutung, dass Kinder in harmonischen und homogenen Gruppen besser lernen können. Für jede „Eigenart“ und Kompetenzstufe gibt es eine eigene Institution an die überwiesen werden kann. D.h. Schüler die curriculare Vorlagen erfüllen nehmen an der Regelschule teil, Schüler die der Regelschule nicht gerecht werden, werden in Förderschwerpunkten separiert (Hinz 2004: 48).
Integration (lateinisch „integratio“ für ‚Wiederherstellung eines Ganzen‘): Diese Art von Beschulung setzt eine vorherige Segregation voraus. Sie lässt Schüler, die diagnostiziert „anders“ sind, zum gemeinsamen Unterricht mit „normalen“ Schülern zu und unterstützt diese speziell mit den für sie zur Verfügung gestellten Ressourcen (z.B. Personal, Finanzen). In diesem Zusammenhang wird der Förderbedarf des Schülers dokumentiert und auf dem Zeugnis protokolliert, um Unterschiede in der Benotung zu rechtfertigen. Kategorisierung  besteht in dieser Art der Beschulung weiterhin, um dem Einzelnen seine zugewiesene Förderung zukommen lassen zu können. Demnach muss es auch solche geben, die entsprechend ihrer Voraussetzungen nicht integriert werden können (Seitz 2003).
Inklusion (lateinisch „inclusio“ für ‚Einschließung‘): Bei inklusivem Unterricht wird Heterogenität vorausgesetzt und davon ausgegangen, dass jeder Schüler individuelle Stärken und Schwächen hat, weshalb für jeden Einzelnen dieselben Fördermöglichkeiten zur Verfügung stehen sollten. Heterogenität als Normalität zu akzeptieren und wertzuschätzen ist die Leitidee der inklusiven Schule. Eine Aussonderung oder Kategorisierung, egal zu welchem Zeitpunkt, findet nicht statt.  Im Gegenteil soll die Heterogenität der Schüler als Basis für den Unterricht genutzt werden. Eine Rücküberweisung in Richtung Förderschule ist nicht möglich und eine beurkundete Dokumentation des Förderbedarfs findet nicht statt. So kann sich das Phänomen der Etikettierung nicht einschleichen. Optimistische Vorstellungen von Inklusion streben Vielfalt als Normalfall an, wobei Inklusion keiner Benennung bedarf, sondern selbstverständlich geworden ist (Preuss-Lausitz 2011).


Abbildung Begriffsdarstellung: Exklusion, Segregation, Integration, Inklusion